World Wide Web statt Webmaschine: aus der Lokalgeschichte lernen

Beim ersten “BANKGESPRÄCH - VR-Bank LOKAL“ in Stadtlohn war der Münsteraner Historiker Werner Freitag zu Gast

29.11.2018

Stadtlohn. "Eine Wirtschaftsregion, die stark und auf der Überholspur bleiben will, sollte beim Überholen auch in den Rückspiegel schauen", begrüßte VR-Bank-Vorstand Berthold te Vrügt zum ersten "BANKGESPRÄCH - VR-Bank LOKAL" und leitete so den einführenden Vortrag von Werner Freitag, Professor für Westfälische Landesgeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, ein. Eine aktuelle Allensbacher Umfrage zeige: Lediglich 18 Prozent der Deutschen ab 14 Jahren interessieren sich besonders für Geschichte - fast 40 Prozent hingegen überhaupt nicht. Dabei beraube man sich durch den fehlenden Blick in den Rückspiegel der Chance auf wichtige Erkenntnisse für die Einschätzung unserer Zukunft – und darüber hinaus natürlich spannender Geschichten - und spannender Geschichte.

Die Veranstaltung ging der Frage nach, was die Region für die Bewältigung von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen, wie man sie aktuell erlebt, aus ähnlichen Vorgängen in der Geschichte lernen könne.

„Wiederholt sich Geschichte?“, fragte te Vrügt in der von ihm moderierten Diskussionsrunde im KompetenzCentrum in Stadtlohn. Geschichte wiederhole sich insofern, antwortete Werner Freitag, als dass sich Zyklen und Mechanismen beschreiben ließen, die im Laufe der Historie immer wiederkehrten. Wenn auch mit veränderten Fakten. So waren sich die Teilnehmer der Podiumsdiskussion – neben te Vrügt VR-Bank Vorstand Matthias Entrup, Stadtlohns Bürgermeister Helmut Könning sowie Erwin Hülscher, Geschäftsführer der Firma Heitkamp & Hülscher - auch darüber einig, dass ein wesentlicher Mechanismus der Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts auch heute noch eine wichtige Rolle spiele: Die Lebensqualität einer Stadt oder Region ist für ihre Bewohner entscheidend dafür, ob sie bleiben oder gehen. Waren es vor rund 150 Jahren, in der Zeit, in der im Westmünsterland neben der Agrarwirtschaft eine prosperierende Textilindustrie entstand, noch elementare Bedürfnisse wie die Wasserversorgung oder Kanalisation, geht es heute um schnelles Internet und lückenlosen Mobilfunk.

Zuvor hatte der Historiker Freitag seine Zuhörer auf eine ausführliche Zeitreise in die historische Entwicklung in den Orten rund um Stadtlohn in seinem Vortrag mitgenommen: „Um 1900 war das Westmünsterland nicht nur eine prosperierende Agrarregion, sondern in jeder Stadt und in jedem Dorf befanden sich Spinnereien und/oder Webereien, ja manche Orte waren regelrechte Textildörfer und Textilstädte.“ Entscheidend für den wirtschaftlichen Aufschwung waren technologische Innovationen wie die Erfindung mechanischer Webstühle bzw. von Spinnmaschinen, die dem Spinnrad oder dem Handwebstuhl überlegen waren. Dynamisch entwickelte sich die mechanisierte Textilproduktion in der 1850er-Jahren, und sie brachte Orten wie Gronau, Gescher, Bocholt oder Emsdetten nicht nur Bevölkerungswachstum ein, sondern auch einen Ausbau der Infrastruktur. Dabei profitierten besonders die Orte, die sich bei der Infrastruktur besonders gut positionieren konnten.

Bankgespräch - VR-Bank Lokal der VR-Bank Westmünsterland in Stadtlohn
Referierten beim ersten "Bankgespräch - VR-Bank Lokal" der VR-Bank Westmünsterland in Stadtlohn: (v.l.n.r.) Matthias Entrup (Vorstand VR-Bank), Erwin Hülscher (Geschäftsführer Firma Heitkamp & Hülscher), Helmut Könning (Bürgermeister Stadt Stadtlohn), Prof. Dr. Werner Freitag (WWU Münster) und Berthold te Vrügt (Vorstand VR-Bank)

Treiber waren hier oft die Unternehmerfamilien. Neben dem Bau von Eisenbahnlinien und Straßen setzten sich die Unternehmer für den Ausbau von Kirchen und den Aufbau von Krankenhäusern ein, „Kinderbewahranstalten“ und Mädchenheime entstanden.
Wichtig auch: Unternehmerpersönlichkeiten prägten diese Entwicklung stark. „Politische Parteien, wie wir sie heute kennen, gab es damals noch nicht“, erinnerte Freitag, „es galt das Dreiklassenwahlrecht“. So waren die Textilunternehmer allesamt politisch engagiert – ein Umstand, der in der Podiumsdiskussion die Frage aufwarf, wie gut Wirtschaft und Politik heute verzahnt sind.

Bürgermeister Helmut Könning verwies auf die erfolgreiche Wirtschaftsförderung seiner Kommune, musste den Unternehmern aber zugestehen: „Man muss schon bereit sein, sehr viel Zeit zu investieren, wenn man sich in der Politik einbringen will.“ Ein Umstand, bei dem Firmenchef Hülscher zugeben musste, dass er sich das für sich nicht vorstellen könne, gleichwohl sei ihm klar: „Die wirtschaftliche Entwicklung hier ist von uns abhängig.“ Dennoch wünsche er sich manchmal etwas mehr Unterstützung von der Kommunalpolitik. Einig waren sich Bürgermeister und Unternehmer darüber, dass es eine gemeinsame Aufgabe von Politik und Wirtschaft sei, für Standortqualität zu sorgen. „Das hat etwas mit Infrastruktur zu tun und mit Lebensqualität“, sagte auch Bankvorstand Matthias Entrup. Keineswegs müssten kleine Kommunen sich aufmachen, sich auf allen Feldern mit den großen Städten zu messen. Wohl aber, wenn es um die elementaren Bedürfnisse gehe. Im 19. Jahrhundert sorgten Leitungswasser und befestigte Straßen für mehr Lebensqualität, heute sind es ausreichend viele Kindergartenplätze, ein gutes Bildungsangebot, moderne Wohnquartiere und Gewerbeansiedlungen, die es für Menschen in allen Altersgruppen attraktiv machen, in der Region zu bleiben. Denn, da ist sich VR-Banker Entrup sicher: Die Menschen hier sind standorttreu, und viele kämen gern zurück.

Die technologische Entwicklung war also schon im 19. Jahrhundert ein wichtiger Treiber, und sie ist es auch heute noch. Nur prägt den historischen Zyklus nicht mehr die Webmaschine, sondern das World Wide Web und die Digitalisierung. „Es lohnt, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Besonders, wenn es dabei auch noch um die Zukunft geht! Das wirklich enorme Interesse mit 90 Gästen am "BANKGESPRÄCH - VR-Bank LOKAL" in Stadtlohn ist ein klarer Beleg dafür“ resümierte Bankvorstand te Vrügt am Ende der Diskussion. Eingerahmt wurde die Veranstaltung von einer spannenden und passenden Bildergalerie, die für den Abend vom Stadtarchivar Ulrich Söbbing zusammengestellt worden war.